Update: Der Roman ist erschienen und Sie können ihn direkt beim Verlag oder im Onlinekaufhaus Ihrer Wahl beziehen. Herzlichen Dank!


11. 07. 2016:

Es ist so weit. Der Roman wird in ein paar Tagen als e-Book erscheinen und nun gibt es eine offizielle Leseprobe vom Verlag.

Wer Probleme mit PDFs hat, kann einen Teil hier anlesen:

I

Mittwoch, 3. März

Noch immer bot sie ihm keinen Tee an, obwohl auf dem alten Holztisch der Dampf über der Kanne aufstieg, bis hoch in den Schein der Lampe hinein. Vanilletee. Oder Erdbeere oder Rhabarber, so etwas. Er trat näher an das Küchenbuffet und betrachtete die Fotos, die an den Glasfenstern steckten, hingeklemmt als wären sie nichts Besonderes. Lachende und auch ernste Gesichter, denen er sofort vertraute, selbst wenn er ihnen nie begegnet war. »Von Ihnen?«, fragte er.
»Bis auf das Bild von der Party, ja.«
»Beeindruckend. Mein Onkel, der prahlt immer mit seinen Objektiven, trotzdem schafft er das nicht. Man muss schon gemocht werden, um so fotografieren zu dürfen.«
»Es sind eben meine Freunde. Sind wir fertig?«
Alle von ihr, nur das Bild von der Party nicht. Lennartsson sah genauer hin. Dieses Foto zeigte sie selbst, und obwohl es dunkel und verwackelt war, erkannte er, wie gelöst sie tanzte, die Arme erhoben, lachend. Sehr jung sah sie aus, höchstens Mitte zwanzig, die Aufnahme mochte schon zehn Jahre alt sein. »Wie Sie da lachen, das hat etwas. Etwas Entgegenkommendes. Etwas Kommunikatives.« Seinen Charme fand er gar nicht mal schlecht.
Doch sie schwieg. Stand angewurzelt dort in ihrer Ecke und schwieg. Mit einem Schritt hätte sie den Flur erreicht und die Straße, die Stadtgrenze, Polen.
Sie schwieg und blieb hier. Aus ihrem Ausschnitt lugte ein klein wenig schwarze Spitze hervor.
Lennartsson war noch keine vierzig. Er blieb auch.

Sein Äußeres alleine hatte noch nie Angst bei Frauen ausgelöst, bis auf das eine Mal, als die Klassenbeste bei ihm klingelte. Lilly hieß sie. Lilly, acht Jahre alt, blond und saubere Kleidung. Damals hatten seine Eltern mit ihm in einem eigenen Haus gewohnt, zusammen mit einem dicken, braunen Cockerspaniel, der zwar nicht mehr der Jüngste war, aber genug Aggressionen besaß, um kleine Tiere zu jagen und zu zerfleischen. Mäuse, Ratten, junge Kaninchen. An dem Tag, als Lilly klingelte, hatte Lennartsson dem Cocker ein Kaninchen entrissen, hinterm Haus, und als er an die Tür ging, hielt er es noch in seiner Hand. Ein bluttriefendes Kaninchen ohne Kopf. Vielleicht hätte er es dem Mädchen sofort erklären sollen, statt zu warten, ob Lilly ihr Ansinnen trotzdem vortrug. Sie floh und sprach drei Wochen nicht mit ihm, was für einen kleinen Jungen die halben Sommerferien sind.
Schwer zu sagen, ob Mila Sartori vor Hauptkommissar Lennartsson Angst hatte, wo er doch dieses Mal nichts, aber wirklich gar nichts in der Hand hatte. »Und Sie bleiben dabei«, stellte er freundlich fest. »Sie wissen nicht, wo Ihre Schwester ist.«
Rasch nickte sie. Eine Strähne fiel in ihr Gesicht, sie wischte sie zur Seite und lehnte sich an die Spüle. Auf ihrem Kleid fand sie einen Krümel, an dem sie zupfte, bis er herunterfiel.
Lennartsson ließ sie zupfen. Schlenderte an das Fenster, das zur Straße zeigte. Holz, Doppelkasten, zwischen den Scheiben bunte Vasen. Sicher nett anzusehen im Sonnenlicht. Wenn sie nur mal geschienen hätte, diese Sonne, in diesem typisch hartnäckigen, grauen Berliner Winter, der sich schon bis in den März hineingefressen hatte. Je trotziger die Kälte verharrte, desto weniger konnte sich Lennartsson vorstellen, wie aus dem Gestrüpp am Straßenrand wieder richtige Sträucher werden sollten. Aber klar, spätestens wenn der Frühling die Stadt endlich von Neuem erwärmte, kamen sie wieder. Berufsbedingt musste er sich fragen, ob auch Olivia wiederkommen würde. Und in welchem Zustand. Um diese Zeit fand man Leichen da draußen, die wegen der niedrigen Temperaturen nur langsam verwesten, und manchmal wünschte man ihnen – bei aller professionellen Distanz –, es wäre schneller gegangen. Ratten waren ein großes Problem in Berlin, manchmal auch Füchse und Wildschweine. Knabberten an Gesichtern herum, pickten die Augen aus und scherten sich nicht um Fragen der Ästhetik.
Ohne sich vom Fenster abzuwenden, fragte Lennartsson: »Seit zwölf Jahren haben Sie keinen Kontakt, sagten Sie? Eine lange Zeit, nicht miteinander zu reden, jedenfalls für zwei Schwestern.«
»Das kommt vor«, erzählte sie seinem Rücken.
»Tatsächlich?«, fragte er.
Tatsächlich. Nur, es passte hier nicht. Er stand weder im sechsundzwanzigsten Stock in der Platte, noch im Souterrain mit vier Hunden und Toilette auf dem Gang.
Ein friedlicher Dorfanger in Alt-Marienfelde, den kein Tourist hinter den breiten Fahrbahnen Berlins vermutet hätte. Eben flackerten die Gaslaternen auf und färbten die Luft langsam orange. Lennartsson mochte das irgendwie ganz gerne. Auch das Kopfsteinpflaster und diese eigenartig braven Häuser aus einer Zeit, in der man die Stube noch mit Kohle geheizt hatte. Mila Sartoris Haus war auch so eines. Auf dem Treppchen vor der Tür standen Töpfe mit Schneeglöckchen. Kitschig und liebevoll zugleich. Gegenüber die uralte Dorfkirche. Der Kirchturm, der über allem wachte, verteilte sechs kraftvolle Schläge, und, so seltsam das auch war, danach war es ruhiger als zuvor.
»Frau Sartori. Zwölf Jahre. Sie gehen Ihrer Schwester zwölf Jahre lang aus dem Weg. Ohne jeden Anlass.« Er wandte sich um, sie starrte auf den Boden. »Jemand wie Sie. Kommen Sie. Sie kümmern sich doch um die Dinge. Zum Beispiel um Ihren Garten, selbst bei der Kälte. Ich sehe in Ihrer Küche Fotos, Blumen, aber nicht viel Kram. Sie gehen sorgsam mit Sachen um, und ich bin mir sicher, ebenso mit Menschen.«
Ein kurzes Lächeln, immerhin.
So behutsam, wie es ihm nur möglich war, sprach er weiter: »Sie sind nicht kalt. Ich denke, es gibt einen vernünftigen Grund für diesen Bruch. Verraten Sie ihn mir. Vielleicht hat Olivias Verschwinden mit ihm zu tun.«
»Sicher nicht.« Mit den Fingern kringelte sie ihre Haarspitzen, ein ums andere Mal. Sehr feingliedrige Finger. Aber warum auch nicht, Mila Sartori war zierlich, sie hatte etwas von einer Elfe, allerdings einer Elfe aus Stahl. Lennartsson verschränkte die Arme.
Sie spielte mit ihren Haaren.
Er schwieg.
Sie seufzte, setzte sich an den Tisch und umschloss ihre Teetasse, die sie mit ihren großen, fast kindlichen Augen stur fixierte. »Wir hatten damals gestritten, ja, aber es ist Gras darüber gewachsen.«
Gras darüber, ganz schlimmer Einbrecher-Jargon. »Hat sie etwas verbrochen?«, musste Lennartsson grinsend fragen, vielleicht ein wenig zu kumpelhaft, und ihre Fingerknöchel traten hervor.
Treffer. Er ging die paar Schritte auf sie zu. Der leichte Vanilleduft, er kam von ihr, von ihren Haaren. »Frau Sartori, was immer es war, es ist zwölf Jahre her. Es ist längst verjährt.«
»Natürlich hat sie nichts verbrochen.«
Breit stützte sich Lennartsson auf den Tisch, baute sich vor ihr auf wie ein Kommissar und sprach wie ein Freund: »Vertrauen Sie mir«, lächelte er, und während er noch dicker auftrug, wusste er schon längst, er übertrieb es: »Ich bin einer von den Guten.«
»Warum respektieren Sie dann nicht meine Privatsphäre?« Rasch erhob sie sich. »Gott, ja, Sie haben recht, man versteht es nicht, aber es ist meine Sache! Nichts für Polizisten und nichts für irgendwelche Akten. Wir haben keinen Kontakt, bis auf die wenigen Male, wenn ich sie bei meinen Eltern sehe. Zuletzt an Weihnachten, also vor Monaten. Ich kann Ihnen nicht helfen. – Olivia hielt sich noch nie an Regeln. Sicher macht sie nur blau, irgendwo in der Sonne. Sie wird zurückkommen. Und lachen über Ihre netten Bemühungen.«
Er richtete sich wieder auf. »Gut. Wenn der Privatweg so streng bewacht wird, werde ich wohl außen herum gehen müssen.«
»Ich bringe Sie gerne zur Tür, kein Problem.«
»Moment.« Aus der Innentasche seines Mantels holte er ein Passbild hervor, das die Datenbank geliefert hatte. Olivia sah grünlich aus, grün und überbelichtet. »Die Automaten machen das leider nicht so gut wie Sie, hätten Sie ein Besseres für mich? Sie sieht Ihnen übrigens ähnlich.«
»Ich habe keine Fotos von Olivia. Und wenn ich im Moment so aussehe, sollten Sie mir Ruhe gönnen«, sagte sie, mit einem Fünftel Lächeln im Gesicht.
Mila Sartori also.
Ohne Eile verstaute er das Bild im Mantel und reichte ihr mit zwei Fingern seine Visitenkarte. Sie las kurz, doch die übliche Reaktion blieb aus. Schon war sie im Flur, schon an der Haustür. Mit der gleichen Geschwindigkeit hätte sie einer Wespe das Fenster aufgemacht.
Während er ihr folgte, lugte er durch einen offenen Bogen ins Wohnzimmer. Dunkelrote Wand, davor ein golden gepolstertes Sofa, vielleicht Biedermeier, das wusste er nicht so genau. Kitsch pur, trotzdem war es deutlich charmanter als sein eigenes Sofa zu Hause. Nächstes Mal würde er sich setzen. Wenn er kam, nur um zu sagen, Mila, Ihre Schwester ist wieder da.
Und dann bekäme er Tee.

Hardy Schneider, Kriminalhauptkommissar seit einigen Jahren, brach gerne Türen auf. Es war die Faszination des Authentischen. Wo er eindrang, hatte niemand mit Besuch gerechnet. Briefe lagen auf dem Tisch, kalte Soße klebte am Herd, Kleidung flog herum und erzählte, was die Menschen im Stillen so trieben, denn ein Höschen auf dem Küchentisch war nun mal kein Höschen auf der Leine.
Anders als der Streber Lennartsson riss er sich nicht um Arbeit, doch er nahm ihm bereitwillig diesen Job hier ab, weil er bestens informiert war, was sich gleich neben der Adresse befand: eine Automatenbude, deren Besitzer noch nicht in die betreiberfreundlichen Geräte investiert hatte. Weil der Senat die Casinos, die an jeder Ecke Berlins vorhanden waren, inzwischen eingedämmt hatte, streckte Hardy sein Glückshändchen aus, wo es noch ging. Er fühlte, nah dran zu sein an einem dienstfreien, angenehmen Leben, fern von stinkenden Leichen und noch mehr stinkenden Kollegen, vorneweg Lennartsson, der unangenehm nach Klugheit roch.
Bei Olivia Sartori sah so weit alles schick aus, allet paletti, nichts Auffälliges. Vielleicht war sie keine Ordnungsfanatikerin, aber da hatte er schon Schlimmeres gesehen. Die Wohnung kleiner als seine, gemütlich im Prinzip, eine typische, entspannte Mädchenbude mit Schnickschnack. Die Frau verstand was von Rotwein. Rauchte polnische Zigaretten. Videosammlung, aha, auch lustfreundliche Streifen.
Er schaute sich einen an, wenigstens zehn Minuten lang. Könnte doch einen Hinweis auf die Vermisste liefern. Vielleicht war sie in bestimmten Kreisen zu suchen. Vielleicht spielte sie in dem Film mit.
Als er aufbrach, fielen ihm dunkelrotbraune Flecken im Eingangsbereich auf. Ach, Scheiße.

[…]

Angela Temming:
Schlaf mein, Kind
Kriminalroman
Format: e-Book
Verlag: Midnight (Digitalverlag der Ullstein Buchverlage)
Erscheint am: 15. Juli 2016
Preis: 3,99 Euro
ASIN: B01HO7TY6M

Angela Temming: Schlaf, mein Kind


Kommentare

Eine Antwort zu „Schlaf, mein Kind (Leseprobe)“

  1. […] Leseprobe. […]

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