Die Ruhe von Stralau (Leseprobe)

erschienen in „Krimineller Reiseführer Berlin“,
Windspiel Verlag
Juli 2014
ISBN 978-3-944399-19-5, 256 Seiten, 12,90 Euro


Die Ruhe von Stralau

Wenn einer der Laubenpieper auftaucht, wird es peinlich. Ein Senior in Strick und Freizeithose kriecht vor einem Gebüsch herum. Er schwitzt. Seine arthrosegeplagten Knie schmerzen wie offene Wunden auf dem trockenen Boden, aber er muss das Biest holen, das tief zwischen den knorrigen Sträuchern liegt. Zweige kratzen an der Stirn, doch er schiebt sich weiter vor, streckt und streckt den Arm. Prompt zieht es böse im Kreuz. Dort brennt auch die Sonne hin, ja, natürlich ist es jetzt zu heiß für einen alten Mann, aber mittags um zwölf, wenn alle Mahlzeit halten, ist eben der beste Zeitpunkt, unauffällig Ratten aufzulesen. Nachts bräuchte er eine Taschenlampe, und nun geh du mal mit einer Taschenlampe nachts durch das feine Stralau, da wirst du doch gleich verhaftet. Weiter den Arm, gerader das Kreuz, aber jetzt! Na? Der steife Gartenhandschuh erschwert es ihm, die dünne Schwanzspitze zu packen, doch er will den elend verreckten Kadaver nicht mit bloßer Hand berühren. Jetzt! Er presst die Finger fest zusammen und zieht den Nager am Schwanz aus dem Dickicht.

Kurz verschnauft Herbert. Dann rappelt er sich auf und lässt die struppige Ratte für einen Moment in der Sonne baumeln. Wie groß sie ist, denkt er, muss aus der Spree gekommen sein. Vor dem Maul hat sie die Krallen verkrümmt, als würde sie sich eine Nuss an die langen gelben Vorderzähne halten, und ihre Augen starren farblos ins Nirgendwo. Gut! Zeitungspapier von der BZ drumherum und ab damit in den Trolley.

Gerade rechtzeitig, denn ein Mann kommt aus einem der Häuschen, stellt sich an sein Törchen, guckt dumm aus der Latzhose und macht grußlos kehrt. Latzhose, denkt Herbert, – genau diese blauen Latzhose, und es sind auch genau die aschblonden Haare seines Bruders Gernot. „Arschloch!“, sagt er leise, greift in seine ausgebeulte Hosentasche, nach der Steinschleuder, doch die Tür der Datsche wird bereits zugeknallt. In der Hosentasche fühlt Herbert neben der Schleuder das Stückchen Papier, und er holt es heraus:
„Dein Bruder liegt im Tunnel.“

Ein kleiner Zettel nur, eine Notiz, und Herbert wird die Zunge plump. Er nimmt aus der anderen Hosentasche sein Tütchen Salmiakpastillen und steckt ein Bonbon in den Mund. Im Rachen breitet sich Schärfe aus, und die hilft ihm sofort, präzise zu überlegen.

[…]


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